Im globalen Wandel mithalten

Seit mehr als 150 Jahren gibt es in der Schweiz eine chemisch-pharmazeutische Industrie. Nicht wenige Unternehmen von Weltruf sind daraus hervorgegangen – eigentlich überraschend für ein Land, das kaum über Rohstoffe verfügt. Doch wettgemacht wird dieser «Mangel» durch Innovationsfähigkeit und einen hohen Grad an Spezialisierung. Inwieweit ist dies auch in Zukunft noch ein Erfolgsrezept?

 

Die Pharma- und Chemieindustrie ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor für die Schweiz. Rund 70 000 Mitarbeitende zählt dieser Sektor gemäss Angaben des Wirtschaftsverbands Scienceindustries und leistet mit 45 Prozent den grössten Anteil an Exportgütern. Die Hälfte dieser Exporte geht in die EU. Entsprechend stark ausgesetzt ist die Pharma- und Chemiebranche den Entwicklungen im internationalen Handel. Und diese bergen derzeit etliche Herausforderungen:

  • Das Rahmenabkommen der Schweiz mit der EU liegt auf Eis. Dieser Zustand sorgt bei vielen exportorientierten Unternehmen – nicht nur der besagten Branche – für Unsicherheit. Scienceindustries befürwortet das Rahmenabkommen im Grundsatz, da sich die Branche davon eine effizientere Anwendung von Verträgen verspricht, die den Marktzugang pharmazeutisch-chemischer Produkte in der EU sicherstellen.
  • Handelsstreitigkeiten zwischen China und den USA erschweren den Zugang zu globalen Märkten, zumal die Welthandelsorganisation (WTO) durch die einseitigen Interessen wirtschaftlicher Grossmächte blockiert ist. So funktioniert etwa das WTO-Schiedsgericht, das eigentlich als Instrument für die Beilegung von Handelsstreitigkeiten fungiert, aufgrund von Vakanzen derzeit nicht.
  • Als Vertreter einer innovationsgetriebenen Branche sind Pharma- und Chemieunternehmen auf den Schutz geistigen Eigentums angewiesen – gerade wenn es um die Erschliessung von Märkten in bisher eher wenig «beackerten» Weltregionen geht. Branchenverbände wie Scienceindustries begrüssen zwar den Abschluss neuer Freihandelsabkommen etwa mit den Mercosur-Staaten, legen aber Wert darauf, dass die Abkommen zum Schutz geistiger Eigentumsrechte in der Welthandelsordnung (TRIPS-Schutzstandards) explizit festgeschrieben werden.

Zu starke Sicht auf Risiken

Neben den Herausforderungen im Export stellt die Branche auch an anderen Fronten Gegenwind fest. In einem Artikel der Zeitschrift «CHEManager» ortete Matthias Leuenberger, Präsident von Scienceindustries, eine «bröckelnde Akzeptanz von wissenschaftlichen Erkenntnissen» in der Gesellschaft. Für eine Branche, die fast 40 Prozent des Aufwands für Forschung und Entwicklung in der Schweiz beisteuert – 2018 waren dies immerhin 6 Milliarden Franken – ist dies natürlich eine bedauerliche Feststellung. Leuenberger stört sich vor allem an einem Punkt: Zu viel werde über Risiken und Gefahren neuer Technologien gesprochen, weniger aber über den Nutzen und die Chancen. «Eine allgemeine Null-Risiko-Haltung ist der Tod jeglichen Fortschritts», so Leuenberger im erwähnten Zeitschriftenartikel. Wie notwendig Forschung an neuen Wirkstoffen ist, zeigt sich etwa beim Thema Pflanzenschutz: So fordern Umwelt- und Konsumentenschutzorganisationen schon seit mehreren Jahren ein Verbot des Herbizids Glyphosat, da es krebserregend sein soll. Die EU hat die Zulassung deshalb nur noch einmal bis 2023 erteilt. Die Schweiz hat hingegen auf ein Verbot bisher verzichtet. Dennoch haben erste Grossverteiler glyphosathaltige Produkte aus dem Sortiment genommen und Grossanwender wie z.B. die SBB suchen Alternativen zu diesem weltweit verbreiteten Unkrautvertilgungsmittel. Doch diese Suche gestaltet sich schwierig; Alternativen mit einem vergleichbaren Wirkungsgrad scheinen bisher noch nicht zu existieren. Es liegt nun also viel an der Forschung, dass inskünftig schonendere und nachhaltigere Wirkstoffe entwickelt werden können. Dies braucht allerdings Zeit und Investitionen – Faktoren, die bei leider oft auch schlagwortbasierten politischen Vorstössen immer wieder zu kurz kommen …

Nachhaltigkeit: Ein grosses Thema

Ökologische Folgen von nicht nachhaltiger Wirtschaft rücken im Zuge der Klimadebatte ebenfalls verstärkt in den Fokus. Und speziell betrifft dies auch die chemisch-pharmazeutische Industrie, da sie bekanntlich mit Rohstoffen und Erzeugnissen arbeitet, von denen eine Gefährdung von Mensch und Umwelt ausgehen kann. Das Thema der Nachhaltigkeit ist für die Branche denn auch nicht neu. Seit 1985 besteht die globale Initiative «Responsible Care», die einen sicheren Umgang mit chemisch-pharmazeutischen Produkten und Rohstoffen zum Ziel hat. In der Schweiz haben 90 Prozent der im Branchenverband Scienceindustries angeschlossenen Unternehmen diese Charta unterzeichnet. Und auch die Reduktion des CO2-Ausstosses ist ein Ziel der Branche. Aber auch hier gilt: Ohne Investitionen und weitere Forschung für schonendere Prozesse geht dies nicht. Hinzu kommt, dass es nicht überall ohne CO2-Emissionen geht. Die Branche fordert deshalb einen möglichst flexiblen Emissionshandel.

Umweltpolitik sorgt für wirtschaftlichen Gegenwind

Veränderung und Nachhaltigkeit sind nicht nur für die schweizerische, sondern auch für die globale Chemieindustrie die wohl wichtigsten Schlagworte. Dies jedenfalls ist die Auffassung einer 2019 weltweit von PwC durchgeführten Umfrage unter CEOs von Chemieunternehmen. 90 Prozent der befragten Unternehmen zeigten sich angesichts ihrer gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage äusserst zufrieden, doch ihre langfristigen Prognosen fielen weit weniger optimistisch aus: Die Verlangsamung des globalen Wirtschaftswachstums und angespannte Handelsbeziehungen wurden da – wie eingangs erwähnt – als Ursachen dafür gesehen. Vor allem eine sinkende Nachfrage aus der Automobilindustrie sehen gemäss der Einschätzung von PwC immer mehr Chemieunternehmen als Vorboten für eine «harte Landung». Auch global betrachtet sorgen «Nachhaltigkeitstrends» für zusätzlichen Gegenwind in der Branche: Substitution von Rohstoffen, die immer knapper werden, die Abkehr von fossilen Rohstoffen und Vermeidung von Abfall stehen hoch oben auf dem Sorgenbarometer der globalen Chemieindustrie. Denn diese steht naturgemäss bei der gegenwärtigen Klimadiskussion besonders im Fokus. Es wird deshalb entscheidend sein, wie sich die Chemieunternehmen diesen Herausforderungen stellen. Denn mit verstärkten Regulierungen ist zu rechnen, und wer hier keine Massnahmen trifft, dürfte es im Markt zunehmend schwer haben.

Abkehr von tradierten Strategien nötig

Das ebenfalls zum PwC-Netzwerk gehörende Strategieberatungsunternehmen Strategy& (ehemals Booz & Company) beobachtet in der Chemiebranche folgende «klassische » Vorgehensweise: Investition in Wachstum durch höhere Ausgaben in Forschung und Entwicklung, Aufbau regionaler Präsenz in neuen Märkten und Neuauflage von Verbesserungsprogrammen, die auf Portfoliobereinigung, verbesserte Anlagenproduktivität, Optimierung von Wertschöpfungsketten und Verschlankung der Organisation abzielen. Trotz dieser Bemühungen bleibe das erhoffte Resultat oft aus, nämlich ein nachhaltig profitables Wachstum des bestehenden Geschäftes, wie es in einer 2015 veröffentlichten Branchenanalyse heisst. «Um in einem veränderten Umfeld erfolgreich bestehen zu können, müssen Chemieunternehmen neue Pfade beschreiten. Dazu gehört, Geschäftsmodelle neu zu durchdenken, das Augenmerk auf Wettbewerbsvorteile in Schwellenmärkten zu legen, Innovation neu zu definieren sowie das Potential digitaler Technologien zu nutzen», so lauten deshalb die Empfehlungen der Strategieberater. Innovation mit der Entwicklung neuer Produkte gleichzusetzen greift hier wohl zu kurz. «Innovationserfolg definiert sich vermehrt durch die Fähigkeit, maßgeschneiderte Kundenlösungen zu entwickeln», heisst es entsprechend weiter. Konkret bedeute dies für die Unternehmen:

  • eine rigorose Ausrichtung an Kundenindustrien («Market Back»)
  • Fokus auf Wettbewerb und «time to market », da sich viele Unternehmen auf gleiche thematische Bereiche konzentrieren
  • Einbeziehung neuer Geschäftsmodelle, die inkrementelle Produktverbesserungen ergänzen
  • Denken in «Innovations-Roadmaps», verknüpft mit dem Portfolio-/Lifecycle Management
  • Innovationsnetzwerke für neue Angebote jenseits der Chemie, vollständig neue Produkte oder Wertschöpfungsketten etc.
  • Nachhaltigkeit als Innovationstreiber und richtungsweisendes Kriterium.

Digitalisierung als Chance

Nicht zuletzt bietet jedoch gerade die Digitalisierung auch der Chemie- und Pharmabranche neue Chancen. Ein Grossteil der Unternehmen scheint dies bereits erkannt zu haben und bekennt sich klar zu den Entwickungen von Industrie 4.0. Gemäss Strategy& erwartet die Prozessindustrie 2020 einen Anstieg des Digitalisierungsgrads auf 77 Prozent (siehe Grafik 2). Denn Produktions- und Lieferprozesse lassen sich zunehmend digitialisieren und erhöhen so die Effizienz. Treiber dieser Entwicklung sind nicht zuletzt die diversen Hersteller von ERP-Software. Stellvertretend für diese Branche lässt sich Rob Sinfield, Vice President Enterprise Management beim Software- Hersteller Sage, wie folgt zitieren: «Industrie 4.0 verändert die Art und Weise, wie Unternehmen arbeiten, und bietet enorme Chancen, aber auch eine zunehmende Komplexität. Unsere Zielsetzung ist es, unseren Kunden zu helfen, das Potenzial der Industrie 4.0 konsequent zu nutzen – und zwar mit einer Software, die nicht nur über eine grössere Auswahl an Funktionsmöglichkeiten verfügt und Unternehmensabläufe effizienter steuern kann, sondern die auch anwendungsbezogene Besonderheiten detailliert abbildet. » Profiteure von mehr Effizienz sind dabei letztlich nicht nur die Unternehmen der Pharma- und Chemieindustrie, sondern auch deren Kunden – und nicht zuletzt wir selbst. Denn die chemisch-pharmazeutische Industrie leistet einen grossen Beitrag für unseren hohen Lebensstandard.

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