«Requirements Engineering ist Enabler für Qualität»

Vom 31. August bis zum 4. September findet in Zürich die 28. International Requirements Engineering Conference (RE’20) statt. Vertreter aus Wissenschaft und Industrie treffen sich dort zu einem fachlichen Austausch in einer Disziplin, die einer fehlerarmen Entwicklung immer komplexerer Systeme dient.

Requirements Engineering ist gemäss IREB (International Requirements Engineering Board) das systematische Spezifizieren und Verwalten von Anforderungen mit dem Ziel, die Bedürfnisse der Interesseneigner (Stakeholder) zu verstehen und das Risiko zu minimieren, ein System zu entwickeln, welches diese Bedürfnisse nicht erfüllt. Die erfolgreiche Entwicklung und Evolution von Systemen oder Produkten hängt letztlich davon ab, dass man sich vorher Gedanken macht, welche Anforderungen zu erfüllen sind, und überprüft, ob das System die Bedürfnisse auch wirklich abdeckt. Wir sprachen darüber mit Prof. Dr. Samuel Fricker (Fachhochschule Nordwestschweiz) und Prof. Dr. Martin Glinz (Universität Zürich), welche die diesjährige Konferenz, an der sich auch die SAQ beteiligt, präsidieren.

Herr Fricker, Herr Glinz: Weshalb kommt dem Requirements Engineering eine derartige Bedeutung zu?

Martin Glinz: Requirements Engineering ist eigentlich eine Massnahme des Risikomanagements. Es geht darum, zu verhindern, dass man ein falsches Produkt entwickelt. Das heisst, man muss sich im Vorfeld Gedanken machen, was man eigentlich entwickeln will, um den Anwendern überhaupt einen Nutzen vermitteln zu können. Dies spielt auch in der agilen Produktentwicklung eine grosse Rolle, wenn nicht zu viele Iterationen am Schluss nur für den Papierkorb bestimmt sein sollen. Natürlich besteht auch eine enge Verzahnung mit dem Qualitätsmanagement: Requirements Engineering ist der Enabler für Qualität.

Samuel Fricker: Requirements Engineering erlebe ich als Werkzeug für Innovation. Oft wird Innovation angestossen, um mit neuen Ansätzen bestimmte Qualitäten von Dienstleistungen oder Produkten zu verbessern. Derzeit arbeite ich etwa an einem Projekt, das Cybersicherheit so weit vereinfacht, dass auch IT-ferne Kleinstunternehmen damit umgehen können. Im Zentrum unserer Arbeit steht dabei das Gestalten von leichtgewichtigen Schnittstellen und Abstimmen von Anforderungen mit verschiedenen Akteuren, um die Sicherheit dieser Unternehmen trotz bzw. dank der Einfachheit der Lösung gewährleisten zu können.

Wo liegen derzeit die besonderen Herausforderungen ans Requirements Engineering?

Martin Glinz: Die besonderen Herausforderungen fallen dort an, wo verschiedene Anforderungen zusammenkommen. Das sehen wir etwa im klassischen Systems Engineering: Dieses ist zusehends Software-getrieben. Requirements Engineering hat im Systems Engineering schon immer eine Rolle gespielt. Mit der Digitalisierung nimmt die Komplexität der Systeme erheblich zu, und damit auch die Bedeutung des Requirements Engineering.

Samuel Fricker: Es geht auch um die Interaktion zwischen den Menschen und Systemen. Das Beobachten solcher Interaktionen, kombiniert mit Feedback der Nutzer, lässt neue Möglichkeiten entstehen, die Nutzung von Systemen besser zu verstehen und daraus zu lernen. Es ist eine neue Generation von Software-basierten Dienstleistungen entstanden, welche mit solchem datengetriebenen Requirements Engineering ganze Industrien verändert haben.

Zur Konferenz RE’20: Weshalb findet diese nun in Zürich statt? Weil die Schweiz besonders führend ist im Bereich Requirements Engineering?

Martin Glinz: Der Veranstaltungsort wechselt im Turnus zwischen Amerika, Europa und dem Rest der Welt. Dieses Jahr ist Europa an der Reihe. Der Lenkungsausschuss der REKonferenz holt jeweils von möglichen Organisatoren Offerten ein. Wir wurden vor zwei Jahren angefragt und erhielten Ende 2018 den Zuschlag für die diesjährige Konferenz.

Ein langer Vorlauf, der jetzt quasi auf der Zielgeraden durch Corona massiv gestört worden ist?

Martin Glinz: In der Tat. Wir stellten rasch fest, dass eine Verschiebung auf einen späteren Termin keine sinnvolle Option ist. Wir haben dann entschieden, am vorgesehenen Termin festzuhalten und je ein Szenario für eine virtuelle und eine hybride Konferenz zu entwickeln – je nachdem, was die Bestimmungen des Bundes dann zulassen. Aktuell zeichnet sich eine Hybrid-Konferenz mit physischen und virtuellen Anteilen als die wahrscheinliche Lösung ab.

Samuel Fricker: Die Nutzung des digitalen Kanals hat den Vorteil, dass wir damit auch Leute erreichen, die wir mit einer physischen Tagung nicht erreichen können. Das physische Treffen ermöglicht Networking. Mit dem digitalen Kanal sind wir erreichbar für Requirements-Engineering-Fachleute und Business-Analysten, die nicht reisen können. Auch prüfen wir Video-Blogs und Diskussionsforen, die auch über die Veranstaltung hinaus genutzt werden und das Weiterentwickeln des Requirements Engineering ermöglichen.

Wen trifft man nun an der RE’20 und um welche Themen geht es konkret?

Martin Glinz: Die Konferenz ist ein Treffpunkt sowohl für die akademische Community im Requirements Engineering (RE) wie auch für RE-Praktiker in der Industrie. Für Industriefachleute führen wir einen eigenen Industrietag mit hochkarätigem Programm durch. Samuel Fricker: Die RE’20 richtet sich an Personen, die in irgendeiner Form in Requirements Engineering involviert sind. Sie ist aber keine «Grundausbildung» in diesem Gebiet, sondern möchte topaktuelles Wissen im RE verbreiten und die Praxis mit neuen Ideen stimulieren, auch für IREB-zertifizierte Personen. Der Industrietag (Programm siehe S. 9, Anm. d. Red.) baut auf den Ideen des ehemaligen RE-Forums der SAQ auf.

Können Sie schon einen Ausblick auf einige Highlights der Konferenz geben?

Martin Glinz: Das Motto lautet «Requirements Engineering for a Digital World». Danach richten sich auch die diesjährigen Keynote- Speaker.

Samuel Fricker: Wir werden viel über Machine Learning hören und erfahren, wie sich Requirements Engineering im Zeitalter der künstlichen Intelligenz verändert. Es geht auch um den Umgang mit neuen Herausforderungen, etwa wenn sich Systeme gegenüber gewissen Nutzergruppen unfair verhalten. Es rücken also neue Fragen in den Fokus, wo es auch um die Ethik geht.

Martin Glinz: Entsprechend interdisziplinär sind auch die Keynotes ausgewählt. Es geht um Ethik und Innovation bis hin zu technischen Vorträgen, etwa zur Agilität der Business-Analyse im industriellen Kontext.

Samuel Fricker: Und ebenfalls nicht zu vergessen – mit grosser Relevanz auch für die Schweiz: die DSGVO. Viele Arbeiten im Requirements Engineering befassen sich aktuell damit, wie mit veränderten regulatorischen Gegebenheiten umgegangen werden kann. Diese Thematik ist derzeit sehr aktuell.

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