«Technologie zwingt uns, neue Fragen zu stellen»

Die Digitalisierung schreitet munter voran. Immer mehr Anwendungen arbeiten mit künstlicher Intelligenz (KI). Bei den einen weckt KI Befürchtungen von einer Welt, in der der Mensch allmählich überflüssig wird. Andere sehen noch nie da gewesene Chancen, unsere Zivilisation weiterzubringen. Die Wahrheit mag irgendwo dazwischenliegen. Fakt ist aber, dass gesellschaftliche Entwicklungen der Technologie hinterherhinken und zu ethischen Fragen Anlass geben müssen.

 

Nicht alles, was technologisch möglich ist, dient auch unserer Wirtschaft. Dennoch generiert die Digitalisierung und besonders die künstliche Intelligenz eine immer grössere Start-up-Szene. Die Schweiz nimmt dabei eine führende Position ein, wie Sunnie J. Groeneveld weiss. Die Unternehmerin, Verwaltungsrätin, Autorin und Studiengangsleiterin begleitet Start-ups bei der Entwicklung digitaler Geschäftsfelder und berät etablierte Unternehmen in der digitalen Transformation.

Viele können den Begriff «Digitaler Wandel» oder «Digitalisierung» zwar kaum mehr hören. Trotzdem sei die Frage erlaubt: Als wie «digitalisiert» erleben Sie die Schweiz im internationalen Vergleich?

Sunnie J. Groeneveld: Auf dem sogenannten IMD World Digital Competitiveness Ranking liegt die Schweiz derzeit auf dem fünften Platz. «Digitalisierung» umfasst inzwischen aber sehr viele Aspekte und Megatrends, nicht mehr allein nur den Gegensatz «analog vs. digital». Wir reden heute von Prozessautomatisierung, digitalem Kundenerlebnis, disruptiven digitalen Technologien wie KI, Blockchain, Augmented Reality usw. Dies alles geht einher mit der zunehmenden Vernetzung. Diese hat auch zu komplett neuen Businessmodellen geführt wie etwa AirBnB oder Uber. Um jeden dieser Aspekte ist es in der Schweiz unterschiedlich bestellt. Was sicher eine grosse Rolle spielt: Bei Forschung und Entwicklung von neuen Technologien ist die Schweiz führend, dank ihren ausgezeichneten Bildungs- und Forschungseinrichtungen wie ETH, CERN oder EPFL. Dass schon 1956 eine Firma wie IBM ihren Forschungsstandort nach Rüschlikon verlagert hat, ist ebenfalls aus dieser Sicht zu beurteilen. Auch andere Weltkonzerne wie Disney oder Google betreiben heute ihre grössten Forschungszentren ausserhalb der USA in Zürich. Zudem hat ebenfalls der chinesische Telekommunikationsausrüster Huawei vergangenes Jahr angekündigt, dass sie Forschungszentren in Zürich und Lausanne mit über 1000 Arbeitsplätzen schaffen wollen, weil der Forschungsstandort Schweiz gerade bei Innovationsthemen sehr stark ist. Ein weiteres Beispiel: In der Entwicklung von Drohnentechnik ist die Schweiz neben Japan und China derzeit die weltweit führende Nation.

Und wo besteht Nachholbedarf?

Die Konsumenten in der Schweiz sind zwar hochgradig vernetzt, fast alle besitzen inzwischen ein Smartphone. Allerdings besteht beim digitalen Kundenerlebnis noch Nachholbedarf. Viele Websites von KMU sind zwar gut gemacht, aber nicht immer responsive, d.h. für mobile Geräte geeignet. Und ich wünsche mir von Unternehmen etwas mehr Mut, einfach mal etwas auszuprobieren. Denn immerhin stehen viele im Wettbewerb und müssen gegen ausländische Konkurrenz bestehen, die diesbezüglich manchmal viel weiter ist.

Aber trotz allem: Die Digitalisierung dient – etwa bei Start-ups – derzeit als grösster Treiber für neue Geschäftsmodelle, zumal bei den erwähnten Hochschulen und Universitäten viele Spin-offs entstehen?

Ja. Wobei auch Spin-offs sich am Markt erst beweisen müssen. Viele Technologien, welche diese Spin-offs vorantreiben und am Markt anbieten, sind zunächst branchenneutral. Um den richtigen Anwendungsfall mit entsprechendem Marktpotenzial zu finden, ist ein unternehmerischer Geist gefragt. Eine Skalierung zu einem Massenprodukt ist sehr oft schwierig, entsprechend bleiben viele dieser Spinoffs klein. Doch hin und wieder entstehen daraus schnell wachsende Unternehmen, wie z.B. die Sensirion AG, ein Spin-off der ETH.

Welche Rolle spielt bei neuen Spin-offs die KI?

Eine zunehmend grössere. Die Anwendungsfelder von KI sind sehr breit, und es gibt entsprechend viele Beispiele dafür. Etwa das Unternehmen Deepcode: Dieses Unternehmen hat ein Analysetool entwickelt, das Program-mierern hilft, schon einmal entwickelte Codes zu sammeln. Das heisst, eine KI eruiert solche Programmzeilen und kann sie dann einem Programmierer vorschlagen. So lässt sich vermeiden, dass viel Zeit in Codes investiert wird, die eigentlich schon mal jemand entwickelt hat. Andere Firmen entwickeln KI-Systeme für die Landwirtschaft: Mittels Bilderkennung von Pflanzen entscheidet eine KI, ob und wie stark sie aufgrund ihres Zustands bewässert oder gedüngt werden soll. Und ein Bekannter von mir arbeitet an einer Software für Anwaltskanzleien, die mithilfe von KI Formulierungen in Verträgen automatisieren kann. Diese Beispiele zeigen: Überall, wo unstrukturierte Daten – Big Data – durch Algorithmen strukturiert werden können, kann KI sinnvoll eingesetzt werden.

Die Technologie bringt nicht nur neue Möglichkeiten, sondern verändert auch die Organisationsformen in Unternehmen. Wie sehen Sie diese Veränderungen?

Verlaufen sie schnell, verzögert, organisch – oder einfach pragmatisch? In der Tat hat man lange Zeit an den gleichen Organigrammen festhalten können. Doch allein schon mit den Kommunikationsmöglichkeiten hat sich dies in der letzten Dekade stark verändert. Heute wird der Monolog topdown immer mehr durch den Dialog bottomup ergänzt. Dies geht einher mit einer zunehmenden Informationsflut. Netzwerke können in der Regel besser mit einer Vielzahl von Informationen umgehen als hierarchische Ordnungen, weil die Informationen nicht von einer Person von oben nach unten verteilt werden müssen, sondern dynamisch fliessen. Zudem bedingen immer mehr Projekte ein iteratives und kollaboratives Arbeiten – vor allem die IT-Branche schreitet da voran. Das heisst, getrieben von Kommunikations- und Kollaborationstechnologien – verändern sich Organisationsstrukturen verzögert. In den ersten Schritten gehen Unternehmen denn auch pragmatisch vor. Vielerorts reift dann die Erkenntnis, dass es effektiver ist, mehr in Netzwerken zu arbeiten. Ich glaube allerdings nicht, dass hierarchische Organisationen ganz aussterben werden. Führungskräfte der Zukunft benötigen deshalb eine sogenannte Ambidextrie, das heisst, sie müssen sowohl in Netzwerk- als auch in Hierarchiestrukturen führen können.

Wandel löst naturgemäss bei Menschen auch Widerstände aus, man klammert sich gern an das Altbewährte. Wie können solche Widerstände überwunden werden?

Die technologische Veränderungsgeschwindigkeit ist derzeit höher als die Geschwindigkeit, mit der sich unsere Gesellschaft verändert. Die Technologie zwingt uns daher, neue Fragen zu stellen. Die Lücke zwischen technologischem Fortschritt und notwendiger gesellschaftlicher Veränderung schliessen muss die Fähigkeit, Neues zu lernen – und dies lebenslang. Glücklicherweise ist die Schweiz in Sachen Bildung und insbesondere Weiterbildung gut aufgestellt. Gut ausgebildete Menschen sind die einzige Ressource, die unser Land hat. Man kann Google zwar alles fragen, aber die Neugierde muss immer noch vom Menschen kommen.

Ist da die jüngere Generation flexibler bzw. laufen ältere Generationen Gefahr, hier den Anschluss zu verlieren?

Es geht in erster Linie um eine Haltungs- und nicht um eine Altersfrage. Grundsätzlich sollte man gegenüber Neuem offen sein. Wenn 2007 ein 15-Jähriger und ein 45-Jähriger sich für das erste iPhone begeistern konnten, können sie beide heute gleichermassen als «Mobile Cracks» gelten. Ich will damit sagen: Es gibt auch heute genauso viele Ältere, die sich für Neues interessieren. Es geht um das Ausprobieren. Vielleicht sind Jüngere hier etwas unverkrampfter, weil sie noch in der Phase «Erfahrungen sammeln» stecken. Für die Führung wiederum ist die Gleichung Alter = Erfahrung nicht mehr uneingeschränkt gültig. Denn auch Jüngere können in bestimmten Gebieten über sehr viel Erfahrung verfügen.

Wie wirkt sich dies auf die Rekrutierung aus? Wie weit kann hier z.B. KI-Technologie Unterstützung bieten?

Die Anwendung von KI-Technologie in der Rekrutierung wird zunehmen. Gelöst werden müssen aber noch einige Herausforderungen: Denn wenn man einem System beibringt, nur Personen mit bestimmten Merkmalen zu suchen, wird man immer die gleichen Leute einstellen, auch wenn Personen, die durch ein definiertes Raster fallen, womöglich genauso gut geeignet wären für eine Position oder sogar neue Fähigkeiten einbringen könnten. Dahinter stehen viele ethische Fragen, die erst beantwortet werden müssen. Dafür braucht es Digital Leaders, also verantwortungsvolle Führungskräfte, welche einerseits über ein ausgeprägtes Technologieverständnis verfügen, andererseits in der Lage sind, die Risiken der KI strategisch zu minimieren und gleichzeitig deren enormes Potenzial in wertschöpfende Bahnen zu lenken.

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