Werte, Risiken und systemisches Coaching

Wir leben in einer zunehmend komplexen Welt mit globalen Problemen, exponentiell wachsendem Wissen, das mit virtuellem und künstlich auf Algorithmen basiertem «Fake-Wissen» verwässert wird, und in der ChatGPT gestern war und heute AutoGPT (AI) wirkt …

Blaupause des Lebens und aller Prozesse: Die Werthaltigkeit zeigt sich im Inneren. (© zVg / Lars Groh)

Gegenwärtig herrscht eine Zeit, in der das «Aussen» (Anzahl Klicks, Titel etc.) mehr zählt als das «Innen» (Erfahrungen, Wissen, Können, Integrität) des Menschen, in der infrage gestellt wird, «wie Wissenschaft Wissen schafft» und das Kurzfristige dem Langfristigen vorgezogen wird. Hier stellt sich die Frage: Wie kann sich ein einzelner Mensch oder gar ein ganzes Unternehmen sinnvoll ausrichten?

Vor Ort schöpferisch sein

Gaben Sir Patrick Geddes «Think global – act local» oder Immanuel Kant mit seinem kategorischen Imperativ «Lebe so, als könnte dein Handeln Gesetz sein», d.h. die Auswirkungen deines Handelns für alle Menschen in deinem Tun zu berücksichtigen, indikativ machbare Anleitungen? Kann uns ein proaktives Risikomanagement als Mensch und als Unternehmen helfen, uns auszurichten?

Gibt es gar soziale Komponenten, die in einer Welt der Bits und Bytes, der Gewinne und Verluste, d.h. der nackten Zahlen, helfen, Mehrwert schöpfen zu können? Was hat dies alles mit Werten zu tun? Wir erinnern uns, dass der Homo sapiens sich durchgesetzt hat, da er ein kollektives Selbst hat! Unser Erfolg beruht auf mitfühlenden Kooperationen (trotz aller Konkurrenz), so zumindest John Izzo.

Werte als Kompass

Wie kann ein Wert wichtig bzw. gar zentral im Wirken sein? Werte, nach Hans Joas «mit starken Emotionen besetzte Vorstellungen darüber, was eigentlich wahrhaftig des Wünschens wert ist», geben ein Ziel oder mehrere Ziele vor und ermöglichen es, sich daran auszurichten. Ähnlich wie Längen- oder Breitengrade können sie den Weg aufzeigen und damit Halt und Orientierung im Alltag geben. Sie helfen insbesondere, die Wirksamkeit bei Veränderungsprozessen zu erhöhen und die Nachhaltigkeit sicherzustellen. Werte können z.B. sein: Antrieb, Bescheidenheit, Erfahrung, Erfindungsgabe, Hilfsbereitschaft, Kameradschaft, Neugier, Privatsphäre, Ruhe, Scharfsinn, Vertrauen. Dies nur als kleine Auswahl aus einem grossen Fundus an Werten.

Nach Viktor Frankl unterscheiden wir drei Kategorien von Werten. Es gibt demnach die Einstellungswerte (Haltungen), die Schaffenswerte (vergänglich) und die Erlebniswerte (bewusstes Wahrnehmen, Achtsamkeit). Aktuell zeigt sich in der Gesellschaft eine Überbetonung von Schaffenswerten zulasten der Erlebnis- und der Einstellungswerte. Werte geben uns Bandbreiten für unser Verhalten und sind gleichzeitig die Basis für Erwartungen und Erwartungserwartungen. Kurz gesagt, dienen sie uns bewusst und unbewusst als Kompass im Leben (auf der Arbeit, in Beziehungen). Fehlen uns diese Werte oder erleben wir deren Verletzung, dann hat dies Folgen bis hin zur Krankheit. Im gegenteiligen Fall, d.h., wir haben diese Werte in unserem Leben verankert, dann helfen sie uns, einen tieferen Sinn zu erkennen.

Das Umfeld und die Natur

Haben wir mit den Werten den Kompass für unser Tun, so stellt sich die Frage nach dem Weg oder Spielfeld, d.h. unserer Umwelt. Sowohl aus der Sicht des Unternehmens als auch der eines Menschen können wir diese – insbesondere deren zunehmende Komplexität – nicht aussen vor lassen. Das Spielfeld, der Lebensweg, kann abhängig sein von den Gegebenheiten des wirtschaftlichen Marktes (Sozialismus, Kapitalismus), den politischen Regelungen (Systeme, Parteien, Diktaturen), den natürlichen Bedingungen (Erde, Tropen, Temperaturen), unserer Kultur und Geschichte, der Familie und den darin enthaltenen (erlebten) Freiheitsgraden.

Urie Bronfenbrenners ökologische Systemtheorie der Entwicklung betrachtet den Menschen als «ein sich in einem komplexen System von Beziehungen entwickelndes Wesen, wobei diese Beziehungen auf verschiedenen Schichten von der Entwicklungsumgebung beeinflusst werden». Die Umwelt wird hier als eine Reihe verschachtelter Strukturen wahrgenommen (Familie, Nachbarschaft, Arbeitsplatz). Hier verbringt der Mensch seinen Alltag. Insbesondere das Mesosystem hat die Wechselwirkungen diverser Mikrosysteme zum Inhalt. Dieses wird umfasst vom Exosystem, d.h. den sozialen Umweltbedingungen. Dieses wiederum wird unterlegt durch Gesetze, Wertvorstellungen und die Kultur im Makrosystem.

Werfen wir einen Blick in die Blaupause des Lebens und aller Prozesse: die Natur. Wie macht dies z.B. ein Baum? Verankert durch Wurzeln mit seiner Umwelt, ein stabiler Stamm, der in seinen Jahresringen (siehe Bilder) regelmässig dokumentiert, ob es ein gutes oder schlechtes Jahr war (Evidenz, vergleichbar mit Speicherung der Erfahrungen im menschlichen Körper), Äste, die flexibel dem Wind und Wetter trotzen, die mit ihren Leitungsbahnen die Blätter und Blüten mit den aus der Erde gewonnenen und über die Wurzeln aufgenommenen Nährstoffen versorgen, sodass Früchte und Samen reifen können. Der Baum passt seine inneren Prozesse (Blüten blühen, Blätter werden braun) dem Aussen, d.h. den Jahreszeiten, an.

Dies alles findet statt in einem dynamischen System, d.h., dauernde Veränderung sorgt dafür, dass die Umwelt nicht statisch ist, und es bedeutet, dass jeder Rollenwechsel Änderungen im Mikrosystem bewirkt. Diese werden als ökologische Übergänge bezeichnet und stellen oft Wendepunkte dar. Diese können von aussen induziert oder von innen heraus entstehen. Jede Veränderung birgt Risiken und Chancen.

Risikomanagement im Kontext des Unternehmens

Betrachtet man das Wort Risiko als vom Lateinischen «risicare» (= «eine Klippe umschiffen», Anm. d. Red.) abgeleitet, dann hat es einen positiven Charakter, denn es steht für «etwas wagen» oder «etwas unternehmen». Durch die systematische Vorgehensweise ermöglicht Risikomanagement, die aus Gefahren resultierenden Risiken zur erkennen, zu beurteilen, zu steuern und, falls nicht bewältigbar, zu akzeptieren.

Neben den externen Risikofeldern eines Unternehmens (z.B. Politik, Ökologie, Wirtschaft, Technologie) gibt es interne Risikoquellen (Produkte, Finanzen, Personal, Management). Richtet man den Blick auf das Innere eines Unternehmens, so sind die Risiken branchenspezifisch und vielfältig, d.h., von der Arbeitssicherheit über die Datenintegrität bis zur Marketingkampagne können Issues und Incidents vorkommen, die mit den Risiken assoziierbar sind.

Bei einem Incident versucht man im Idealfall, die Quelle, d.h. die Wurzel des Ereignisses, zu finden. Man geht zum Ursprung, um das Problem dort zu beheben, wo es entstanden ist.

Wertorientiertes systemisches Coaching

Die Wertentwicklungen und die Wertverletzungen fügen sich zum Wertesystem eines Menschen zusammen. Deren Erleben prägt unsere Einschätzung und die Beurteilung der Welt. Unser Gehirn erstellt auf dieser Basis eine individuelle Ordnung der Werte (Wertehierarchie). Hier baut das St. Galler Coaching-Modell® (SCM) von Rudolf E. Fitz auf, welches davon ausgeht, dass diese Werte uns zumeist unbewusst steuern. Das SCM folgt den fünf Dimensionen Spiritualität, Zeitstrukturen, Tiefenstrukturen, Problem- und Entwicklungsraum und dem Wert im Kontext des Zielraumes.

Als wertorientierter systemischer Coach geht man davon aus, dass der Kunde die beste Lösung unbewusst in sich trägt. Die Hilfe beim Bewusstmachen erfolgt durch systemisches Fragen und den regelmässigen Perspektivenwechsel (ins Unbewusste) und den methodisch basierten Prozess.

Der Coachee wird im Kontext der Herkunftsfamilie, des Bekanntenkreises, der beruflichen Systeme etc. betrachtet. Das Auflösen von Verhaltensmustern spielt eine grosse Rolle. Das Erkennen durch den Coachee, was ein Unterlassen bewirkt, trägt seinen Anteil zu nachhaltigen Lösungen bei.

Zusammenführung Natur – Mensch – Unternehmen

Schauen wir auf die Gemeinsamkeiten der Natur, des Menschen und eines Unternehmens im Hinblick auf die Anpassungsfähigkeit, um das Überleben in der Umwelt zu gewährleisten, so ist festzustellen, dass sowohl äussere Faktoren als auch innere Vorgänge die Stabilität beeinflussen.

Ein systematisches Identifizieren von Werten, Risiken, Systemen, Erfahrungen und Glaubenssätzen schafft unbewusst durch deren blosses Wahrnehmen ein Selbstbild und Gruppenverhalten. Stellen Sie sich vor, dass Sie als Einziger in einer Gruppe richtig zum Rhythmus laufen. Die Gruppe lebt den gelebten und nicht den geschriebenen Kodex. Die Grenzen der Wahrnehmung sind dort, wo das unbewusst Abgespeicherte den Geist steuert und den Menschen führt.

Der unbewusste Abgleich der Werte einer Person mit den (gelebten) Werten des Unternehmens bestimmt den Leistungsbeitrag des Einzelnen. Gleiche Werte helfen wie bei einem Magneten, sich gleich auszurichten und die Energie in die gleiche Richtung (da gemeinsame Werte vorhanden) fliessen zu lassen.

Wertebewusstsein

Das Unternehmen braucht Werte zur Schaffung von Klarheit im Tun und zur gemeinsamen Ausrichtung. Der Mensch möchte seine Werte vermehren oder deren Verletzung verhindern, d.h., sowohl im Risikomanagement als auch im wertorientierten systemischen Coaching ist beides zu betrachten.

Was lernt das Unternehmen daraus? Es sollte den Fokus nicht nur auf die Chancen für mehr Umsatz, sondern gleichberechtigt auf das Management der Risiken zur Schaffung der Resilienz legen. Der einzelne Mensch hat die Möglichkeit, durch systemisches Coaching sich seiner Werte bewusst zu werden, diese wahrzunehmen und zu pflegen und seinen Lebenskompass auszurichten.

Ein innerlich aufgeräumter Mensch ist für jedes Unternehmen ein Gewinn, insbesondere dann, wenn er für die gleichen Werte einsteht wie das Unternehmen. 

 

Autor

Lars Groh ist Vorstandsmitglied beim Netzwerk Risikomanagement.

Dieser Fachartikel erscheint in einer Beitragsserie, die von Expertinnen und Experten des Netzwerkes Risikomanagement beigesteuert wird.

www.netzwerk- risikomanagement.ch

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