Messtechnik lebt!

Mit der internationalen Fachtagung «Produktionsmesstechnik für die Praxis» hat die NTB Interstaatliche Hochschule für Technik Buchs am 3. und 4. September einen starken Akzent gesetzt. 320 Besuchern konnten sich vom aktuellen Messtechnik-Knowhow überzeugen – in Fachvorträgen und bei 54 Herstellern.

Messtechnik lebt!

 

 

 

Zum fünften Mal hat das Institut für Produktionsmesstechnik Werkstoffe und Optik (PWO) mit seinem Leiter Prof. Dr. Ing. Claus Keferstein die alle zwei Jahre stattfindende Tagung organisiert, diesmal unter dem Motto «Neue Wege gehen – Werte schaffen». Auf neues Terrain wagte sich auch der Veranstalter mit einem attraktiven Tagungskonzept. Parallel zu den Fachvorträgen fand eine Ausstellung statt, die fast an die Bedeutung der Basler Messe «Prodex» heranreichte. Die Ausstellerliste umfasste 54 führende Messtechnik-Hersteller. Neu in diesem Jahr war, dass am 2. Tag der Tagung die Aussteller selber Kurzvorträge hielten, Usermeetings veranstalteten und ihre Produkte präsentierten – für die Fachbesucher, Messtechniker aus der Schweiz, Österreich und Deutschland, eine ideale Plattform, um ihr Wissen zu vertiefen

 

In den zahlreichen Fachvorträgen standen Themen wie die Koordinaten- und Oberflächenmesstechnik sowie die Beschichtungsmesstechnik und Prozessoptimierung im Mittelpunkt. Eingeleitet von Berichten über aktuelle Trends folgten vertiefte Ausführungen von Spezialisten in Parallelworkshops.

Praktisch gefragt

 

In seiner Einführung ging Prof. Claus Keferstein gleich zur Sache und fragte: «Ist schnelles und genaues Messen preiswert und prozessnahes Messen teuer? Oder ergänzt sich das? Muss man manchmal schnell messen, aber nicht so genau?» Fragen also, die den Praktiker täglich beschäftigen. Keferstein doppelte bezogen auf das

 

Qual der Wahl

 

magische QM-Dreieck nach: «Man kann nicht alles haben, wenn die Qualität hoch sein soll, dann kostet das Geld und man braucht Zeit. Wenn ich die Qualität geringer mache, kann ich die Kosten senken oder die Zeit verkürzen. Oder ich muss schneller messen, dann kostet das, aber alle drei kann ich nicht haben.»

 

Solche Widersprüche sind von erheblicher Relevanz für die Messtechnik in den Betrieben. Sie müssen sich ständig fragen: Wo braucht man was? Der Kunde verlange 100 Prozent gute Werkstücke. Gleichzeitig steige der Kostendruck durch schnelleres Umrüsten und Fertigen und die Lieferfristen würden bei kleineren Losgrössen immer kürzer. All das habe enorme Auswirkungen auf den Messund Prüfaufwand. Im Kern komme es, so Keferstein, auf die Art von Prüfprozessen an, wie der Messtechniker seinen Aufgaben gerecht werden kann. Hier hat er heute die Qual der Wahl. Geräte der Koordinaten- und Mehrstellenmesstechnik, Bezugsflächenund Oberflächenmessgeräte, Längenregelung: Sie decken eine breite Palette zwischen genau, schnell und kostengünstig ab.

 

Was bedeutet «genau»?

 

Entspannter könne man die Aufgaben angehen, wenn man den Begriff «Genauigkeit» unter die Lupe nimmt, meinte Keferstein. Im Grund gehe es doch darum, eine Funktion sicherzustellen. Für dieses Funktionsmerkmal wird ein passendes Prüfmerkmal gesucht. Mehrdeutigkeiten sind dabei verhängnisvoll. Was nützen unzählige Messdaten, wenn das Produkt trotzdem nicht funktioniert? Keferstein: «Die Korrelation zwischen Prüf- und Funktionsmerkmal muss stimmen, und dann kommt erst das zweite, nämlich wie kann ich dieses Prüfmerkmal messen?»

 

Hier spielt die Unterscheidung von absoluter Genauigkeit und Wiederholgenauigkeit eine wichtige Rolle. Die absolute Genauigkeit dient zur Abnahme durch den Kunden, zugesicherte Eigenschaften des Produkts werden geprüft. Neben einem rückgeführten Normal braucht man dazu genaue Kenntnisse der Umgebungsbedingungen wie Temperatur und Schwingungen, denn die haben Einfluss auf die Messunsicherheit. Und diese sei immer «aufgabenspezifisch», so Keferstein. Für Absolutmessungen liegt die Latte hoch: Sie müssen weltweit reproduzierbar sein, also bei VW in Brasilien genauso gelten wie im Wolfsburger Stammwerk.

 

Anders liegt der Fall bei der Wiederholgenauigkeit. Bei ihr darf man nicht von Messunsicherheit sprechen. Keferstein: «Da blicke ich nur auf den Prozess. Hier geht es darum, wie stabil der Prozess ist, und das ist eine firmenspezifische Angelegenheit.» Ist der Prozess einmal eingestellt, kann mit Wiederholgenauigkeit einfach und preiswert festgestellt werden, ob ein Werkstück bzw. sein Funktionsmerkmal davondriftet.

In der Produktion messen

 

Der Trend, die Messtechnik immer näher an die Produktion zu bringen, hat in den letzten Jahren enorm zugenommen. Der klassische Messraum weit weg vom direkten Prozess dürfte in Zukunft nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Keferstein zeigte viele Beispiele von praktischen Anwendungen: Für Messtechnik im Herstellprozess, Messen am Prozess, prozessnahes Messen für Stichprobenprüfungen und Spezifikationen

 

Die Herausforderung in den nächsten Jahren sieht Kefstein bei den Prüfprozessen in der Herstellung, denn in diesem Bereich könne man absolut oder auch wiederholgenau messen. Immer mehr moderne Messverfahren suchen hier nach optimalen Lösungen. Ob Optische Sensoren, Streulicht oder Equator, Unrund-Messungen an Werkzeugmaschinen oder prozessnahe Sonderbauformen von Koordinatenmessgeräten, Kefersteins Fazit: Hohe Qualität, extrem kurze Zeiten im Prozess und preiswert müssen nicht länger ein zwingender Widerspruch sein: «Man muss nur die richtige Strategie und die richtigen Messverfahren einsetzen.» MesstechnikKnow-how sei heute der Schlüssel zu preiswerten und qualitativ hochwertigen Produkten.

 

Taktil oder optisch?

 

Über die Trends der Oberflächenmesstechnik referierte mit Tobias Hercke, Verantwortlicher für die Oberflächenmesstechnik bei der Daimler AG, ein gestandener Praktiker. Aus Anwendersicht komme es darauf an, dass die Oberfläche eines Bauteils ihre Funktion erfüllt. Den Funktionsbezug sicherzustellen, sei daher die Hauptaufgabe der Messtechnik.

 

Hercke hat dazu aufgrund seiner langen Erfahrungen seine «eigene Philosophie» entwickelt: «Eine Oberfläche besteht aus der Summe ihrer Strukturelemente.» Wobei den Erhebungen, Riefen und Vertiefungen bestimmte Eigenschaften, vertikal und lateral im µm-Bereich zugeordnet werden. Damit sei er immer gut gefahren, betonte er.

 

In seinem Vortrag widmete er sich vor allem der Frage, ob profiloder flächenhaftes, also taktiles oder optisches Messen von Vorteil sei. In einer Bestandsaufnahme

 

Profilhaft ist der Standard

 

verglich er die Stärken und Schwächen beider Verfahren. Vom Anwenderstatus her sei profilhaftes Messen ein «Butter-und-BrotMessverfahren», in vielen Industriezweigen die Basis zur Bewertung von Qualität und Funktionalität. Taktiles Messen sei universell und robust einsetzbar und die Unternehmen könnten auf gut ausgebildetes Personal setzen. Schwächen des Verfahrens lägen unter anderem im geringen Informationsgehalt der Messungen und den längeren Messzeiten. Die Normung sei ausgereift, aber so kompliziert, dass sie vom Konstrukteur und Anwender kaum mehr überschaut werden kann

 

Für die flächenhaft optischen Verfahren sprechen der grosse Informationsgehalt und die kurzen Messzeiten. Sie ermöglichen gute Visualisierungsmöglichkeiten und damit bessere Auswertungen der Messergebnisse. Im Vergleich zu den taktilen stünden die optischen Verfahren allerdings eher noch in einer «Findungsphase» und konzentrierten sich auf Spezialbranchen. Auch in puncto Normung stehe man mit der ersten Generation der ISO 25178 noch am Anfang.

Kein harter Gegensatz

 

Für den Praktiker stellt sich mehr und mehr die Frage: «Heiligt der Zweck die Mittel?» Nach Tobias Hercke müssen flächenhafte (optische) Messverfahren immer mehr bei der Lösung von Problemen helfen, die mit StandardMessverfahren nicht oder nur mit grossem Aufwand lösbar sind. Absehbar sei, dass in Normung und Praxis Profil und Fläche näher «zusammenrücken». Zwar gelte für die Zukunft «häufig wie bisher auch» mit vielen guten Messverfahren, doch sieht Hercke die Vorteile der optischen Oberflächenmesstechnik darin, dass mit flächenhaft und schnell messenden Verfahren zum Beispiel weitere Fortschritte bei der Lebensdauer von Motoren und Komponenten zu erwarten sind

Immer neu herausgefordert

 

Prof. Nikolaus Herres von der NTB gab einen Überblick über die neuesten Verfahren der Beschichtungsmesstechnik. Sehr viele Bauteile und Produkte funktionieren dank Beschichtungen, von der einfachen Türklinke über den Bohrer bis zu komplizierten Leiterplatten, Sensoren, Gläsern und Optiken. Durch Modifikationen können ihre Eigenschaften wesentlich verbessert werden. «Beschichtung bedeutet Materialverbund», stellte Nikolaus Herres fest und benannte damit gleich die Schwierigkeiten, vor denen geeignete Messverfahren stehen. Denn die Zielgrössen sind vielfältig: chemische Zusammensetzung, Rauheit, Schichtdicke, Porösität, Eigenspannung, Härte und Verschleiss, um nur einige zu nennen.

 

Bei der Messung von Beschichtungen gelten besondere Bedingungen: Je nach Verfahren extrahiert eine Sonde Informationen

 

Zweck heiligt die Mittel

 

aus unterschiedlichen «Tiefen» der Probe. Die Nachweisempfindlichkeit hängt vom Signalkontrast ab, die Unterdrückung störender Effekte kann zum Problem werden. Und eine gute «Ortsauflösung» sei wichtig, wenn mikroskopische Defekte lokalisiert werden sollen

 

Die vielen Zielgrössen erfordern unterschiedlichste Messverfahren. Herres: «Sie können ‹speziell› sein, weil der Grundwerkstoff immer mitspielt». Und weil die Hersteller immer wieder neue Beschichtungen entwickeln, fordern sie die Messtechnik immer wieder von Neuem heraus: «Gut so», meinte Prof. Nikolaus Herres dazu abschliessend

Viele Highlights

 

Ein Höhepunkt der Tagung war die Präsentation von Prof.Dr.Ing. Gerd Jäger (Technische Universität Ilmenau). Jäger gilt als einer der weltweit führenden Forscher in der Mikro- und Nanomesstechnik. Er stellte ein 3D-Koordinationsmessgerät vor, das Genauigkeiten von wenigen Nanometern erreicht. Ferner konnten sich die Teilnehmer über neueste Möglichkeiten der Forschungsförderung informieren und diskutierten über die Zukunft der Messtechnikausbildung in der Schweiz. Dies unter dem Eindruck, dass sich der Staat immer mehr aus der Ausbildung zurückzieht und die Welt der Messtechnik immer komplexer wird. Dies wird zu immer mehr firmenfinanzierten, auf die Unternehmensbedürfnisse zugeschnittenen Spezialausbildungen führen, war die Meinung der Anwesenden

 

Messtechnik-Generalisten, wie sie Prof. Claus Keferstein verkörpert, könnten damit immer seltener werden. Der Tagungsleiter hat in den 19 Jahren als Dozent und Institutsleiter am NTB das Institut für Produktionsmesstechnik Werkstoffe und Optik (PWO) zu einem Ausbildungs- und Forschungszentrum mit heute 20 wissenschaftlichen Mitarbeitern aufgebaut. Jetzt ist er in den Ruhestand getreten, Prof. Dr. Ing. Andreas Ettemeyer wird offiziell sein Nachfolger. Die grosse Anerkennung für Claus Kefersteins Arbeit wurde durch den Erfolg seiner «Abschieds»-Tagung einmal mehr bestätigt.

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